
Ich fange diesen Text mit einem Disclaimer an: Wenn es keine Psychopharmaka gäbe, und wir Menschen keine Psychopharmaka nutzen könnten, wäre ich sehr wahrscheinlich nicht mehr hier, um diesen Text zu schreiben. Ein großer Anteil meiner Kund*innen wäre nicht mehr am Leben.
Psychopharmaka retten Leben.
Es gibt einen Grund, dass ich derart mit der Tür ins Haus falle: Eine Biologin und Hundetrainerin hat vor wenigen Tagen einen Blogartikel veröffentlicht mit dem Titel „Bittere Pillen: Weshalb wir damit aufhören sollten, bei Hunden Psychopharmaka einzusetzen“. Und ich habe eine Weile überlegt, warum mich das, jenseits einer wissenschaftlich zu führenden, rationalen Debatte, so anfasst. Ich denke, das ist der Grund: ein Erfahrungswissen darüber, dass Psychopharmaka Leben besser machen können. Und eine tiefe Dankbarkeit, dass weder damals noch heute Arztpersonen auf die Idee kam, mir zu sagen, Placebo seien doch genauso gut.
Auch viele von Euch hat dieser Artikel sehr irritiert und teilweise verunsichert. Ich glaube, das hat einen guten Grund: Ein für manche Menschen hoch emotionales Thema wird hier mit scheinbarer Wissenschaftlichkeit – zu erkennen zum Beispiel an einer ausführlichen Quellenliste – und in einiger Länge behandelt, von einer Autorin, die viele von uns als gute Trainerin schätzen. Gleichzeitig enthält der Artikel einige logische Fehlschlüsse. Diese aufzudecken, erfordert Zeit und Arbeit, was in der Schnelligkeit der sozialen Medien oft zu kurz kommt. Mir ist beispielsweise aufgefallen, dass die Schlussfolgerungen nicht aus den Prämissen folgen (ein Non-sequitur-Fehler, z.B. Depression beruht gar nicht auf Serotoninmangel, also beruht sie auf gar keinem biologischen Vorgang und SSRIs sind sinnlos), dass mit schwachen Induktionen und unzulässigen Verallgemeinerungen gearbeitet wird, falsche Analogien und unklare Begriffe verwendet werden (z.B. keine klare Definition von „Depression“ sondern Gleichsetzung mit Varianten von „Traurigkeit“), Verwechslungen von zeitlicher Folge mit Kausalität, dass eine „Gegenseite“ konstruiert wird, die es so nicht gibt (Strohmann-Argumention) und falsche Dichotomien aufgemacht werden (es gibt nur ein Zuviel von Psychopharmaka oder gar keine).
Letztlich geht es mir gar nicht um den Artikel, sondern um das, was er anrichtet. Seit Montag erreichen mich ständig Anfragen von verunsicherten Menschen, die sich fragen, ob sie ihre eigenen Medikamente absetzen sollten, oder ob sie ihre Hunde bzw. die Hunde ihrer Klient*innen ohne Medikamente lassen sollten. Ich habe mich deshalb dafür entschieden, statt aufzuzeigen, inwiefern der Artikel in sich Fehler enthält, lieber zu formulieren, was doch eigentlich klar sein sollte:
- „Psychopharmaka“ ist ein Überbegriff für sehr viele sehr unterschiedliche Medikamente. Dazu zählen zum Beispiel Tranquilizer/Anxiolytika/ Angstlöser, Hypnotika („Schlafmittel“), Antidepressiva (darunter zum Beispiel Serotoninwiederaufnahmehemmer, Monoaminoxidasehemmer, selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, selektive Noradrenalin-/Dopamin-Wiederaufnahmehemmer, selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, Tri- und Tetrazyklische Antidepressiva, und andere), Stimmungsstabilisierer/Phasenprophylaktika und Antiepileptika, Neuroleptika/Antipsychotika, Psychostimulantien (für ADHS) sowie Antidementiva. Diese vielen Medikamentenklassen kann man nicht seriös in einen Topf werfen.
2. Depression ist eine ernstzunehmende und lebensbedrohliche, multifaktorielle Erkrankung. Sie ist nicht mit einem schlichten Serotoninmangel (wie in den 1960ern vermutet) gleichzusetzen. Das ist seit etwa 2020 bekannt und heute keine Schlagzeile mehr.
3. Wirksame Medikamente haben Nebenwirkungen. Auch das ist nicht neu.
4. Manche Antidepressiva können gerade zu Beginn der Einnahme das Suizidrisiko erhöhen. Das ist einfach logisch nachzuvollziehen: Sie machen wieder handlungsfähig. Man kann wieder aus dem Bett aufstehen. Nennt sich Antriebssteigerung und ist grundsätzlich eine durchaus erwünschte Wirkung. Dass man da bezüglich Suizid aufpassen muss, ist weder neu noch besonders schockierend und erklärt jeder Beipackzettel und jede Arztperson.
5. Medikamente können falsch angewendet werden. So sind beispielsweise Benzodiazepine, also eine bestimmte Klasse Beruhigungsmittel, bei Hunden für die kurzfristige Anwendung gedacht, werden aber manchmal langfristig gegeben.
6. Psychopharmaka verändern das Verhalten. Zum Beispiel reagieren Organismen in manchen Studien unter starken Beruhigungsmitteln weniger auf Belohnungen. Das ist aber nicht besonders überraschend: Sie sollen ja wirken. Und wer schon einmal eine Davor genommen hat, weiß, dass man da auf einige Reize eher vermindert reagiert – So überbrücken Benzodiazepine bei Menschen Suizidale Zustände oder machen schwer traumatisierten Umständen einen Alltag möglich.
7. Manche Psychopharmaka abzusetzen ist schwierig und muss kleinschrittig und mit einem Plan erfolgen. Dazu gibt es Bücher, Artikel, Online-Informationen. Vielleicht nicht genug. Aber es gibt sie. Und manchmal ist es auch gar nicht das Ziel, sie abzusetzen. Storebought is just fine. Oder fragst du Diabetiker*innen auch, wann und wie sie ihr Insulin absetzen?
8. Psychopharmaka wirken in vielen Fällen am besten in Kombination mit einer Verhaltenstherapie. Sie sind selten einige alleinige Lösung. Auch das ist nicht neu.
9. Die Studienlage bezüglich Psychopharmaka ist komplex. Das zeigt Google (oder besser Google Scholar) genauso wie ChatGPT oder ein Blick in eine Fachzeitschrift oder ein Gespräch mit klinisch tätigen Menschen oder auch den so genannten Betroffenen. Zu behaupten, es gebe zu irgendetwas keine Studien oder keine Belege, ist fast immer unseriös. Für Hunde existieren durchaus empirische Studien, die zeigen, dass unter bestimmten Bedingungen Psychopharmaka wirken – beispielsweise zu Fluoxetin bei Trennungsangst. Einseitig Studien herauszusuchen, die nur meine eigene Sichtweise belegen, nennt sich „Cherry Picking“ und geht aufgrund der großen Verfügbarkeit von Studien natürlich immer. Davon darf man sich nicht beirren lassen.
10. Viele Verhaltensprobleme von Hunden resultieren aus strukturellen Problemen — schlechte Haltung, Überforderung von Hund und Mensch, zu wenig Wissen, zu wenig Unterstützung, fehlendes oder schlechtes Training. Eine ethisch und bedürfnisorientiert verantwortliche Praxis muss immer alle drei Ebenen im Blick haben: Umweltbedingungen, ggf. Medikation, gezieltes Training/Verhaltenstherapie.
Also nein, wir sollten keinesfalls „aufhören, Hunden Psychopharmaka zu geben“. Wir sollten es klug, informiert und mit Bedacht tun.
Womit wir aufhören sollten?
Mit Pill Shaming, das dazu beiträgt, dass Menschen ihre Medikamente nicht mehr nehmen – mit allen schlimmen Folgen. Oder ihren Hunden Medikamente vorenthalten. Als wäre es nicht schwer genug, Hundehalter*innen und Tierärzt*innen in ein Boot zu kriegen, um Hunde psychisch gut zu versorgen. Ich jedenfalls habe in meinen fünfzehn Jahren als Hundetrainerin und Verhaltensberaterin bisher einen Hund gesehen, bei dem ich dachte, „na ob das nicht auch ohne das verordnete Antidepressivum ginge“. Dem gegenüber stehen zahllose Hunde, die regelmäßig oder auch langfristig unter schlimmster Angst leiden, die sich zügig generalisiert, und Halter*innen oder Ärzt*innen „möchten aber keine Tabletten“, höchstens vielleicht „was homöopathisches“.
Aus meiner Sicht ist das unterlassene Hilfeleistung – und diese wird mit Artikeln wie „Bittere Pillen“ unverantwortlich befeuert.
Ich sehe Hunde, die so fürchterliche Angst vorm Tierarzt haben, und mit Unterstützung von Sileo, Trazodon oder GABA endlich mal die Erfahrung machen könnten, dass Untersuchungen gar nicht so schlimm sind – und auch endlich gründlich untersucht werden könnten. Ich sehe Hunde, die derart unter Trennungsangst leiden, und deren Menschen alles für sie geben, und denen mit einem passenden Medikament der Einstieg in ein Training endlich gelingt. Ich sehe Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, mit ihrem Hund jedes Jahr zum Jahresende ins Ausland zu reisen, und ihm durch spezifische Medikamente ermöglichen, die Nacht ohne Panikattacke zu überstehen. Ich habe Hunde gesehen, die stärkste Zwänge zeigen und sich dabei selbst verletzen, und unter medikamentöser Behandlung in Kombination mit Verhaltenstherapie ein normales Leben führen konnten. Von den Hunden und Menschen, die mit Diagnosen wie Epilepsie, Schizophrenie oder verschiedenen Demenzen bitte nicht unbehandelt bleiben sollen, ganz zu schweigen. Ja, auch das sind „Psychopharmaka“.
Womit wir aufhören sollten? Mit unsachlicher Panikmache zur Wirkung von Psychopharmaka, wie dem Bild des „Zombies“, oder dem Schlagwort der Persönlichkeitsveränderung. Da müssten wir bitte erst einmal klären, was „Persönlichkeit“ bei Hund und Mensch ist, wie sie mit „Verhalten“ zusammenhängt, mit Hormonen, Neurotransmittern, der Möglichkeit, bestimmte Erfahrungen zu machen oder nicht zu machen. Inwiefern sie wandelbar sein kann oder etwas wie einen „festen Kern“ beschreibt, wie Persönlichkeit messbar oder von Dritten wahrnehmbar sein kann – Persönlichkeitsforschung ist ein riesiges und sehr spannendes philosophisches und psychologisches Gebiet.
Womit wir aufhören sollten? Depressionen zu verharmlosen, indem wir sie als eine normale menschliche Reaktion auf irgendein mehr oder weniger tragisches Ereignis darstellen. Das verfehlt völlig, was Depression ist und verhöhnt all jene, die einmal wirklich diese Erfahrung machen mussten.
Womit wir aufhören sollten?
Undifferenziert zu diskutieren. Der Bereich psychischer Erkrankungen, Behinderungen und Leiden ist sehr groß. Zu behaupten, man solle hier überhaupt keine Medikamente geben, ist Unsinn. Über welche Symptome reden wir, welche Erkrankungen, welches Leiden, welche Therapieziele?
Womit wir aufhören sollten?
Als Expert*innen für Hundetraining, die wir uns alle für Gewaltfreiheit und bedürfnisorientierten Umgang einsetzen, uns gegenseitig zu diffamieren, anzufeinden und sachlichen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Thesen in den Raum zu stellen und sich selbst als Expert*in darzustellen, und dann Diskussionen abzulehnen, stattdessen sachliche Kommentare zu löschen und andere Trainer*innen zu blockieren. So kommen wir nicht weiter.
