In Habca, Hundeerziehung, Hundepsychologie, Hundetraining, Philosophisches zu Hunden, Tierphilosophie

Manchmal ärgert man sich ja ganz schön über seinen Hund. Habca zum Beispiel macht manchmal nicht „aus“, wenn sie was Tolles gefunden hat und es eine Weile im Maul herumtragen will. Richtig sauer werde ich auch, wenn sie unerlaubt auf die Strasse geht, und natürlich kommt auch sie nicht in hundert Prozent der Fälle in denen ich sie rufe. Weniger dramatische Fälle von Gehorsamkeitsverweigerung können mich immer noch ärgern: Der Hund will manchmal partout nicht in den Agilitytunnel, gestern hat das Targeting noch viel besser geklappt, und wenn ich „leise“ sage bellt sie auch mal weiter.

Manno, rufe ich manchmal ganz verzweifelt, wieso machst Du das denn jetzt nicht? Wieso machst Du nicht was ich Dir sage?

Der Hund (jeder Hund, manche öfter, manche seltener) ist also ungehorsam. Oder?

Wenn man sich neuere Hundeerziehungsliteratur anschaut, begegnet einem immer öfter die Idee, der Hund könne in einer bestimmten Situation einen bestimmten Auftrag nicht ausführen.

Der ungehorsame Hund sitzt ja quasi mit verschränkten Armen auf der Wiese und sagt: Nö, keine Lust. Oder, wie eine Agilitytrainerin mal zu mir sagte als Habca wieder mitten im Parcours stehenblieb: „Die zeigt Ihnen ja den Stinkefinger!“

Klar, manchen Rassen, darunter Tibetterrier, schreibt man nämlich sozusagen eine grundsätzliche Neigung zu Ungehorsam zu, und das nennt man dann „Dickköpfigkeit“ und „Eigensinn“ und „Sturheit“.

Was ist denn das eigentlich, fragt der Philosoph. In Rassebüchern steht gerne sowas wie „Der Tibetterrier muss erst den Grund eines Befehls einsehen, bevor er ihn ausführt“. Aus meinem täglichen Leben kann ich das bestätigen (wobei Kekse einen ziemlich guten Grund abgeben.) Aber: Verstehen, dass Handlungen durch „Gründe“ motiviert werden, das ist ein ziemlich komplizierter geistiger Vorgang, und obwohl ich ihn Hunden keineswegs absprechen will, finde ich doch die Beweislage ziemlich dünn um zu vertreten, dass Habca jedesmal „wieso“ fragt und sich anders entscheidet wenn mein Grund sie nicht überzeugt. (Das würde jetzt zu weit weg führen von meiner eigentlichen Idee, aber das, was Philosophen unter „Gründen“ verstehen, das sind halt keine Kekse.)

Ich versuch mal etwas anderes. Folgende These: Der Begriff des „Ungehorsams“ ist auf Hunde nicht sinnvoll anzuwenden. Er hat keine interessante Bedeutung. Interessant ist es aber, zu erläutern, welche Fähigkeiten der Hund braucht, um bestimmten Aufforderungen überhaupt Folge leisten zu können. Ob dann sein eigener Wille dem noch im Wege steht, diese Frage vertagen wir erstmal.

Mit diesen Fähigkeiten meine ich nicht das Naheliegende: eine zumindest vage Vorstellung davon haben, was „komm“ heisst, zum Beispiel, und das „Fifi“ sich auf mich-selbst bezieht (ui, das sind schon wieder Annahmen), und dass Fifi-komm eine Aufforderung an mich ist, einen bestimmten Zustand in der Welt herzustellen (bei uns zum Beispiel: Hundenase an rechtem Frauchenzeigefinger), und dass dieser Zustand auch in irgendeiner Form erstrebenswert ist (Kekse!) oder zumindest keine unangenehmen Folgen hat (anleinen und nach Hause gehen als harmlosestes Beispiel). Nein, das ist ja alles Welpengrundschulwissen. Ich meine etwas anderes, und deshalb muss ich Euch den Begriff der Executive Functions erklären.

„Executive Functions“ sind höhere (kortikale) Gehirnfunktionen, die eine Kontrolle von Denken und Handeln ermöglichen. Was genau alles darunter fallen soll ist umstritten, aber wahrscheinliche Kandidaten sind (Handlungs-)Planung, Arbeitsgedächtnis, „interference control„, Aufmerksamkeitsregulierung und -steuerung, das Hemmen naheliegender, unangemessener Handlungen, und etwas, das man „set-shifting“ nennt: Hierzu gehört zum Beispiel die Fähigkeit, rote Dreiecke einmal als roten Vierecken ähnlich und einmal als grünen Dreiecken ähnlich zu betrachten.

Executive Functions sind nicht ganz trivial, sich „normal“ entwickelnde Menschenkinder
können Aufgaben, in denen diese Fähigkeiten gefragt sind, erst mit etwa drei oder vier Jahren lösen. Das Problem an solchen Aufgaben ist, dass eine Antwort (oder Handlung) „nahe liegt“, sie wurde schon öfter abgerufen, ist einstudiert, oder ist sogar automatisch. Ein einfaches Beispiel: Man bittet ein Kind, immer wenn man ihm ein Bild von Mond und Sternen zeigt, „Tag“ zu sagen, und immer wenn man ihm ein Bild von Sonne und Wolken zeigt, „Nacht“ zu sagen. Kinder unter drei Jahren können das in der Regel nicht (obwohl sie die Aufgabenstellung verstehen)!

Im oben erwähnten Sortierbeispiel (die roten Dreiecke) liegt das Problem daran, die eigene Aufmerksamkeit hin- und herzulenken (das Ding hundertmal als „rot“ und dann plötzlich als „Dreieck“ behandeln). Gerade „Aufmerksamkeit“ führt durchaus ein Eigenleben, und das hat natürlich einen evolutionären Sinn. (Der Hund, der sich auf sein DogBrick®-Spiel konzentriert während die Bären um ihn herumschleichen, der hat ein Problem.) Neuigkeit zum Beispiel weckt immer Aufmerksamkeit. In einer Testsituation einen neuen Stimulus zu ignorieren, kann fast unmöglich sein. Die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit willentlich zu steuern und weniger abhängig von äußeren Faktoren zu machen, muss sich entwickeln. Bei Menschenkindern dauert das drei Jahre – Jahre, in denen ihre Erzieher viel dafür tun (sei es auch unwissentlich). Und viele Kinder haben für immer Schwierigkeiten mit ihren Executive Functions. Die kriegen dann das Label „ADHD“ oder „Obsessive Compulsive Disorder“ oder „Autismus“ oder „Tourette“.

Und der Hund, der gerade auf seinen Lieblingsfeind losstürmt, soll „einfach so“ in der Lage sein, seine Aufmerksamkeit vom bedrohlichen Feind weg und zu Frauchen hin zu orientieren? Und wenn ers nicht schafft, ist er wieder „ungehorsam“ und „eigensinnig“? Ne, so einfach ist das nicht.

Man kann solche Dinge trainieren, denn eine der wunderbarsten Eigenschaften des Säugetierhirns ist seine Plastizität, seine Lern- und Anpassungsfähigkeit – in einem bestimmten Rahmen. Aber in einen Hund reinprügeln kann man höhere Executive Functions ganz sicher nicht.

Zum Weiterlesen:
Die „Executive Functions Group“ am University College London;
EFs in der Encyclopedia of Mental Disorders;
und EFs bei Wikipedia.

Showing 9 comments
  • Banjo's Frauchen

    ich habe das Gefühl, dass es hochinteressant ist, und dass ich es verstehen werde, wenn ich es morgen langsam noch einmal lese. ;)
    Darum geh ich jetzt schlafen. *kicher*

    Gute Nacht
    Banjo’s Frauchen

  • Anonymous

    Oh, Mann, und das am frühen Morgen.
    Doch nach der dritten Tasse Milchkaffee fange ich an zu begreifen.
    Natürlich hast Du Recht.
    Wollen wir etwa einen total devoten Hund?
    Sind es nicht gerade diese Verhaltensmuster die das Zusammenleben mit unseren Stinkern soooo spannend machen?
    Als „ehemalige“ Mutter ( hat sich erledigt, bin jetzt in der Rolle einer Freundin )kann ich nur sagen: Wie Kinder.Nö, mache ich nicht.Bitte!!! Nö, warum? Weil ich es möchte. Aber ich nicht.Bähhh
    Ich könnte hundert Beispiele nennen, meinen Hund überzeugen zu wollen nicht in meinen Pop zu kneifen, mit Bestechung von irren Leckerli.Was kommt? Danke Frauchen lecker, wenn ich fertig bin damit komme ich schnell zu dir und…. kneif…
    Tcha, was ist mein Indi nun?
    Hyperaktiv? Gaga? Ungehorsam?
    Oder einfach nur ein ganz „normaler“ Hund der sein leben liebt?
    Sehr interessantes Thema !!!!!
    noch nen Kaffee hol Silvie

  • Banjo's Frauchen

    Boah, wer so lange schwere Texte schreibt, muss damit rechnen, dass er lange, unzusammenhängende und unqualifizierte Antworten erhält. Also versuche ich jetzt, dich zu bestrafen. *kicher*

    Bezeichnet man beim Hund nicht das „Handeln, motiviert durch Gründe“ als Instikt, oder als Trieb? Versucht man nicht permanent, dem Hund abzusprechen, er könne abwägen ob sich eine Handlung für ihn lohnt oder nicht? Wäre das nicht eine Schande für uns, wenn so ein kleines Hundehirn Arbeiten verrichten könnte, für die man mindestens unsere Hirnausmaße braucht? Aber das ist, glaube ich die einzige Überlegung, die ein Hund anstellt, wenn er etwas tun soll: „Lohnt sich das für mich?“ Ich bin überzeugt, dass diese Frage permanent durch ein Hundehirn saust, und dass sie das ganz fix abwägen können. Dass ein Hund, selbst wenn die Antwort „ja“ lautet noch die Frage stellt: „Muss ich das JETZT tun? Brauche ich das JETZZ?“ Und darin liegt glaub ich die Falle, die wir als Ungehorsam deuten, wenn es sich um das Befolgen oder Verweigern eines Kommandos handelt.

    Wenn du ihn („schon wieder, das hatten wir doch vorgestern schon“) durch den Agi-Tunnel schickst, weiß er im Voraus, was er dort bekommt, was ihn am Ende erwartet. Die Frage lohnt sich das für mich, kann also mit JA beantwortet werden. Aber die Antwort auf die Frage „brauch ich das unbedingt jetzt? Hab ich da jetzt Lust zu?“ kann durchaus ein NEIN sein. Hund weiß, dass sich diese Situation noch zigmal bis an sein Lebensende wiederholen wird. Dass er das Lecker am Tunnelausgang nicht verpasst, sondern es halt an der Wippe kriegt. So lange kann er ohne das Lecker vom Tunnel überleben. ;)

    Wenn Hunde jagen, sind sie durchaus in der Lage, die Frage „Was muss ich tun?“ in Sekundenschnelle und auch im Abstand von Sekundenbruchteilen immer wieder neu zu stellen und neu zu beantworten, um das Tier zu kriegen, dass sie haben wollen. Sie sind auch in der Lage, bei der Jagd die ganze Herde zu verfolgen fokussiert auf das einzige Tier darin, dass sie erbeuten wollen. Ich könnte das nicht. Ich hätte jeden Schwarmfisch oder jedes Gnu nach einer einzigen Sekunde schon aus den Augen verloren.

    Ich glaube halt nicht, dass der Keks die Frage „was soll ich tun?“ entscheidet, sondern das Interesse an Frauchen, und der Fakt ob der Job, den er gerade machen soll Spaß macht.

    Was macht einem Hund Spaß? „Sitz“! Das muss ihm unheimlich viel Spaß machen, denn das machen die meisten Hunde schon, kaum dass man den Finger hebt. ICH glaube, an so einem Punkt ist „Sitz“ zum Reflex geworden. Lediglich im Winter wird ein „Sitz“ noch überlegt ausgeführt, weil da der Po kalt und nass wird. Man sieht das richtig, wie der Hund überlegt. „Platz“ wird aber schon seltener zum Reflex werden weil dabei der Bauch kalt wird. Ach quatsch, das ist natürlich kein Grund. Der wahre Grund dafür ist natürlich dass der Hund unsere Dominanz nicht akzeptieren kann und nicht will.

    DAS ist bis hierher meine Hirnleistung, wenn ich deinen Text lese. Das mit den roten Dreiecken hab ich nicht verstanden. Und dass KINDER mit AD-Dingsbums hochintelligent sind statt ungehorsam oder stur – das ist inzwischen bekannt. Wozu hochintelligente Hunde fähig sind… Naja, sie hauen halt ab, wenn ihnen was stinkt. Sie kneifen in Pos, wenn ihnen langweilig ist, sie ignorieren uns, wenn wir Blödsinn von ihnen verlangen.

    Ach ja, noch was schönes: Warum sollte ein Hund, der gerade auf einem sonnigen Plätzchen „Sitz!“ machen durfte und die Wärme genießt, auf „komm!“ zu seinem Frauchen rennen, dass es vorzog in den Schatten zu gehen? Das ist mir jetzt toternst. Warum sollte er einen Platz verlassen, an dem er sich sauwohl fühlt – gerade JETZT – für ein profanes Leckerchen? Ist das Ungehorsam?

    Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Wenn mein Hund bei „komm!“ nicht kommt,hau ich ihn so was von windelweich… Dann hat er bei der nächsten Gehorsamsverweigerun wenigstens einen GUTEN Grund. *hihi*

    „Komm“ wird niemals ein Reflex werden. Die Gründe für ein „Komm!“ sind von unsererseite fast immer damit verbunden, dem Hund einen Spaß zu verderben. Um ein „Komm!“ auszuführen, braucht der Hund schon einen sehr guten Grund.

    Banjo brachte mich da immer zum Grinsen. Er sah weit hinten einen weißen Hund. Er hatte einen fantastischen Grund, durchzustarten, denn er liebte Chayenn, die weiße Schäferhündin oder seine beiden Westis Milli und Molli. Da gab es kein Halten mehr. Er raste also los, und kurz vorher erkennt er „oops, Irrtum, sind die ja gar nicht. OK, dann kann ich zu Frauchen zurücklaufen.“ War Hund nun gehorsamt oder desinteressiert?

  • Banjo's Frauchen

    Oh, ich hab es durcheinander gebracht. *lol* nach dem Lesen hab ich an einer falschen Stelle weitergeschrieben. Nun sind die Absätze durcheinander. Aber ich glaube man vesteht noch was ich meine.

    Banjo’s Frauchen ist halt ein Wirrkopf. *kicher*

  • Habca & Miriam

    Banjofrauchen, wenn Du mit „Strafe“ meinst, Du willst hier einen Meidereiz setzen damit ich sowas nicht mehr mache, dann muss ich Dich enttäuschen… :-))) Da bin ich wie der Indi und kneife weiter. Überhaupt fällt mir jetzt erst auf wie philosophisch das vom Indi ist. Der Philosoph ist ein Pokneifer, die anderen wollen gemütlich sitzen, und der Philosoph macht alles immer so kompliziert. ;-)
    Also ich find Eure Gedanken dazu spannend, eine Belohnung quasi, und mach weiter. ;-)
    Miriam

  • Hoshi

    Spannend, sehr spannend!
    Frauchen sagt, wenn sie einen Hund haben möchte, der immer alles macht, was sie sagt, der immer sofort gehorcht, der nie sein Gehirn einschaltet und nachdenkt, dann würde sie sich einen Hund von Sony holen. Der wäre genauso langweilig :-)
    Und wenn ich was wider Erwarten nicht mache, überlegt Frauchen, was der Grund sein könnte und wie sie es besser machen könnte. Und das wiederum hält IHR Gehirn fit und jung :-) Und macht ihr Leben spannender :-)

    Wüffchen
    Hoshi

  • Emil

    Frauchen kennt diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck von mir, wenn ich ganz sicher nicht tun werde was sie gerade von mir verlangt. Sie weiß aber auch, dass ich oft einen für mich wichtigen Grund dafür habe. Je nachdem wie wichtig ihr das Kommando in diesem Moment ist, gibt es das Wort „Doch!“ oder „dann eben nicht“. Oder wir finden einen Kompromiss, was auch nicht immer einfach ist.
    Ein Briard kann da schon manchmal ziemlich anspruchsvoll sein.
    Wuff,
    Emil

  • Bijou

    Ja das sind schwierige Begriffe, finde ich auch. Aber Herrchen sagt, es gibt keinen Hund der alles kann, ohne es vorher zu lernen. Man sagt, dass eine Wiederholung von bis zu 8000 ! Mal notwendig ist, damit der Hund einen Befehl sicher (ein Hund kann nur Schwarz oder Weiß) ausführen kann. Also Herrchen sagt, er würde nicht zählen, daher gilt: was nicht ausreichend geübt wird, kann man auch nicht sofort und in Perfektion erwarten oder verlangen. Mit „reinprügeln“ funktioniert das schon gar nicht.
    Mit Spannung erwarten wir weitere Berichte über dieses Thema.
    Liebe Briardgrüße von Bijou

  • Banjo's Frauchen

    Bis zu 8000 mal? Das bestätigt meine Annahme, dass sich ein Hund fragt, ober das Kommando lernen will oder nicht.

    Den Superpfiff konnte er nach 3 mal. Ruhe an der Leine konnte er nach drei Jahren in ca. 75% aller Fälle und da auch nur vermindert. ;)

Leave a Comment