Eine Frau wird vermisst, etwa Mitte 30, sie ist vom Spaziergang mit ihrem Hund nicht zurückgekommen. Der Hund fehlt auch. Ihr Auto steht auf dem Parkplatz an der TeNo-Hütte. Es ist Sonntagmittag, eiskalt, die Sonne scheint schräg durch die Tannen.
Ich schaue mir das Auto an, überlege, ob ich eine Geruchskopie vom Türgriff machen soll, entscheide dann aber, es so zu versuchen. Ich hole Rike aus meinem Auto, ihr Suchgeschirr, die lange neongelbe Suchleine, ihre Belohnung – ein Döschen Feuchtfutter. Rike sieht Geschirr und Leine und weiß um was es geht. Sie fiept erwartungsvoll, ich hocke mich hin, sie springt auf mein Bein, um sich ihre Arbeitskleidung anziehen zu lassen. Ungeduldig streckt sie – der Hund, der Geschirre hasst – ihren Kopf durch ihr Suchgeschirr. Ich trage sie unter dem Arm zum Auto der vermissten Personen, halte ihre Nase an den Türgriff, gebe ihr das Kommando zum Riechen. Sie quietscht. Ich setze sie auf dem Boden ab, warte noch eine Sekunde, versuche abzuschätzen, ob sie Geruch hat. Dann gebe ich das Signal zum Start.
Sie schießt los. Hängt sich in die Leine. Zieht vom Auto direkt zu einem der fünf Abgänge in den Wald. Ich lasse sie gewähren, laufe hinterher.
Wir traben einen Waldweg entlang. Die Luft ist schneidend kalt. Immer wieder springt der kleine, energetische Hund über den Graben am linken Wegrand, klettert die Böschung hoch, läuft ein paar Schritte in den Wald, kehrt um, springt wieder auf den Weg. Ich versuche mitzukommen. Nicht zu stören. Im Kopf ganz offen zu werden: Ich gehe mit dir wohin du willst. Ich überlasse mich deiner Führung. Ich vertraue dir.
Manchmal klettere ich mit in den Wald, muss dann aufpassen, ihr den Rückweg nicht zuzustellen. Manchmal ist sie so schnell, dass ich die Leine umfasse, auf dem Weg bleibe, ohne ihr zu bedeuten, dass ich in den Wald nicht mitkäme. Sie entscheidet. Und obwohl es so aussieht, als beachte sie mich nicht, fühle ich, wie wir tanzen. Miteinander. Ich mache, dass sie mich nicht beachten muss. Dass sie sich ganz auf das einlassen kann, was ich nicht sehe, nicht rieche, nicht fühle. Das, was sie führt. Was uns führt. Der Suchhund braucht nur einen Gehorsam: das ist der Gehorsam gegenüber der Spur.
Da vorne kommt die V-Kreuzung. Ich kenne die Wege gut, bin schon den ganzen Vormittag hier unterwegs, und gestern, auf der Suche nach anderen vermissten Personen. Oder „Versteckpersonen“: Wir prüfen an diesem Wochenende 19 meiner Mantrailing-Kunden.
Ausgerechnet auf der Kreuzung kommen uns zwei große Hunde entgegen. Ich denke daran, dass Rike noch läufig ist, überlege, ob es Rüden sind, ob ich was sagen soll – kurz: ich bin raus.
Rike entscheidet sich für rechts. Oder? Sie scheint mir zu schwimmen. Willst du zurück?, frage ich, indem ich eine Seitwärtsbewegung andeute. Willst du in den Weg da rein? Sie prüft, kommt zurück. Prüft rechts, prüft links. Will weiter. Ich kann ihr nicht helfen, ich weiß nicht, wo wir hin müssen. Ich kann ihr nur vertrauen, versuche, sie zu lesen, und sie zu unterstützen, in dem was sie tut.
Sie entscheidet sich für einen Weg links in den Wald. Wir rennen, springen über Äste, Bäume, durch Schlamm. Hierlang, hierlang, ruft sie mir zu, abwärts, runter! Links! Es ist der Moment, in dem wir fast eins sind, in dem ich manchmal glaube, den Geruch – nicht zu riechen, aber zu sehen vielleicht… Es sind solche Momente, wegen der ich traile. Der Geruch zieht uns wieder bergan, zurück Richtung Kreuzung. Wir beide gehorchen dem Geruch.
Ich atme schnell. Es ist steil. Rike rennt vor mir, springt, klettert. Fiept. Quietscht. Schaut sich zu mir um. Da ist nichts mehr!, sagt sie.
Sie will weiter, will den Geruch zurück. Klettert auf einen umgefallenen Baum. Ich versuche, aus unserer getriebenen, gefühligen Einheit herauszutreten, blitzschnell nachzudenken. Da oben ist die Kreuzung. Hier will sie lang. Dort war ihre Negativanzeige. Wir sind tief, die Kreuzung ist hoch. Ich entscheide mich zum Abbruch, hebe den wilden kleinen Hund hoch, warte kurz, heißt das, lass mich nachdenken. Deine Nase, mein Kopf.
Ich klettere mit ihr auf dem Arm bis kurz hinter die Kreuzung. Werfe sie wieder auf den Boden, in den Lauf. Sie hat sofort Geruch. Hängt in der Leine. Es ist der andere Weg der zwei, die sich kreuzen. Ich versuche, nicht an dem Gedanken festzuhalten, dass ich sie gestört habe, dass die anderen Hunde sie gestört haben, dass sie hätte deutlicher sein sollen. Ich höre auf zu denken. Wir rennen. Ich kann nicht mehr lang. Links von uns ein Rinnsal, ein Graben, dann geht es steil hoch zum Glaskopf. Links, sagt sie, aber noch nicht jetzt. Erst noch weiter. Dann springt sie. Ich sehe eine neongrüne Jacke im Wald. Einen Hund mit pinker Jacke. Wir haben gefunden!