In Hundehalter, Hundepsychologie, Mensch-Hund-Beziehung, Philosophisches zu Hunden, Tibetterrier, Tierpsychologie, Verhaltensforschung

Man liest oft, dass Hunde kein Zeitempfinden hätten. Ich halte das für Blödsinn. Es ist aber auffällig, was für ein kompliziertes Verhältnis Menschen zur Zeit haben. Da gibt es die, die mit ihrem Herzen, ihrer Seele ganz in der Vergangenheit leben. Die, die dem Augenblick immer schon weit voraus sind, die in Plänen und Vorhaben schwelgen. Ein reiches, lebendiges Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft scheint mir ganz charakteristisch für den Menschen zu sein.

Es gibt keine Möglichkeit, den Satz „Morgen sehen wir uns wieder“ in Habcas Sprache zu übersetzen. Das heisst aber nicht, dass sie kein Zeitempfinden hätte. Für jemanden ohne Zeitempfinden macht es keinen Sinn zu warten. Nur ist das Zeitempfinden von Hunden sicher anders als unseres, und unseres ist so wahnsinnig kompliziert dass man vielleicht deshalb darein gerät zu sagen: Die haben halt gar keins.

Wir können das Verstreichen von Zeit nicht bloß wahrnehmen (können wir das überhaupt?). Wir bewerten die Zeit, finden sie lang oder kurz, angenehm oder schlecht. Wir können gedanklich durch die Zeit reisen: wir können uns bewusst an etwas erinnern und das vor unserem „inneren Auge“ noch einmal durchleben, wir können aus der Zeit herausspringen indem wir tagträumen und in der Fantasie ganz andere Zeitabschnitte verstreichen lassen als in der Realität. Wir können erzählte Zeit von der Erzählzeit loskoppeln. Wir können uns uns selbst in der Zukunft vorstellen. Wir messen Zeit und können uns anhand solcher Maßsysteme Zeitabschnitte vorstellen. Uns interessiert, wie viel Zeiteinheiten etwas dauert, etwas zurückliegt oder wie viele Zeitabschnitte wir noch auf etwas warten.

All das tun Tiere so sicher nicht.

Was heisst das nun?

Habca hat mich „lange“ nicht gesehen. Etwas fehlt ihr. F. sagt, sie zieht ihn zur S-Bahn-Station. Sicher malt sie sich nicht vor ihrem inneren Auge aus, mich dort abzuholen. Aber die S-Bahn-Station hat etwas mit ihrem Sehnen zu tun. Abends wird sie unausstehlich – ganz Hütehund: Wenn es dunkel wird hat die Herde zusammen zu sein. Sicher stellt sie sich nicht vor, wie schön es wäre wenn ich dort auf dem Sofa säße. Wenn ich nicht da bin, ist sie allgemein viel ruhiger. Sie schläft mehr, zieht sich öfter mal zurück. Sie hat Riesenspaß mit F., frisst normal, es geht ihr gut. Könnte sie unsere Sprache sprechen, ich glaube nicht, dass sie benennen könnte was ihr fehlt.

Ich kann allzugut benennen was mir heute abend fehlt. Ich rechne, wie lange ich hier bin, wie lange es dauert bis ich Habca und F. wiedersehe. Noch drei Wochen. Noch zehn Mal schlafen. Noch ein Tatortabend. Noch einmal Schwimmen gehen. Mein letztes Mittagessen hier. Morgen um die Zeit… Aber der heutige Abend scheint ja fast länger als die drei vergangenen Wochen! Was soll ich bloß in den nächsten fünf Minuten tun? Wie soll ich morgen die Minuten rumkriegen, bis das Auto um die Ecke gekurvt kommt?

Wenn das Auto steht und Habca mich sieht, dann endlich fällt unsere Zeit wieder in eins. Dann gibt es nur noch: Jetzt. Jetzt sind wir zusammen, jetzt ist alles gut.

Mal ehrlich: Heute abend würde ich mein reiches Zeitempfinden schon ganz gern eintauschen gegen Habcas Gegenwärtigkeit.

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