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Dies ist die Fortsetzung von „Wer mehr sieht, muss weniger glauben (Teil 1)„.

Im letzten Beitrag ging es darum, das Video gut zu beschreiben, bevor man es interpretiert. Nun ist die Frage: wie kommt man von der Beschreibung zu einer Interpretation?
Meines Erachtens gibt es da mehrere Wege, so wie wir auch mehrere Wege haben, Verständnis für andere Menschen zu entwickeln. Nur den für zwischenmenschliche Verständigung vielleicht (?) wichtigsten Weg, die Sprache, können wir leider nicht nehmen. Ich kann die Hunde nicht fragen: „Wie haste’n das gemeint?“

Wege, um von Beschreibung zu Interpretation zu kommen

  1. eigene Erfahrung. Wer viel Hunde beobachtet hat, weiß eher, was aus einem Verhalten folgt, und kann es damit besser verstehen. Er sieht eher Abstufungen von Verhalten. Er kann vergleichen, und weiß, was möglich ist. Ich meine damit nicht Leute, die einen Hund haben oder gehabt haben, und von dem auf alle anderen schließen. (Solche Hundetrainer gibt es ja auch, mich nervt das immer furchtbar). Ich meine eher Leute, die mit Hunden aufgewachsen sind, oder deren Eltern Sport- oder Diensthunde hatten, einen nach dem anderen, oder die Jahre in einer großen Hundebetreuung zugebracht haben und Hundeverhalten angeguckt. Oder Bio-Studenten mit Praktika bei Günther Bloch. – Vorsicht, je nachdem, wo die Erfahrungen gemacht werden, kann es sein, dass sie sich nur auf eine Rasse, einen Hundetyp oder Hunde eines bestimmten Lebensumfeldes beziehen.
  2. Erfahrung anderer Leute. Sowas kann man Lesen.
  3. Wissenschaft. Wenn Erfahrung mit großen Zahlen arbeitet, und systematisch voneinander lernt und aufeinander aufbaut, dann wird irgendwann Wissenschaft daraus. Wissenschaftliche Untersuchungen zu Körpersprache des Hundes gibt es zuhauf! Die von Turid Rugaas beschriebenen Beschwichtigungssignale zum Beispiel sind auch immer wieder Aufhänger neuerer Studien. Hier gibt es eine Einschränkung: Studien muss man lesen können. Meiner Ansicht nach neigen Menschen mit wenig Erfahrung im Studien-Lesen dazu, die Ergebnisse unkritisch zu verallgemeinern. Es gibt aber auch Studien mit z.B. geringer Anzahl untersuchter Hunde, die vielleicht noch alle von der gleichen Rasse, oder aus dem gleichen Umfeld. Das sind dann keine schlechten Studien, aber es wäre falsch, ihr Ergebnis als „so ist das bei allen Hunden“ zu lesen.  Studien bekommt man heutzutage im Internet – meistens auf englisch, aber einiges wird auch übersetzt. Manches ist kostenlos. Manches ist allgemein verständlich, manches nicht.
  4. Experten befragen. Experten sollten 1.-3. zurate ziehen können. Nicht jeder Hundehalter kann oder will das selbst leisten. Was er dann aber stattdessen leisten muss: irgendwie abklären, ob der Experte tatsächlich ein solcher ist.

Ich habe die letzten elf Jahre damit zugebracht, mir auf diesen Wegen dieses Wissen anzueignen, und trotzdem ist es mir wichtig zu sagen: das, was jetzt kommt, ist meine Interpretation. Sie kann falsch sein. Ganz oder in Teilen. Ich habe gute Gründe, es so zu interpretieren, ich könnte es be-gründen, ich könnte auf Quellen verweisen. Aber: in den Kopf gucken können wir unseren Hunden alle nicht.

Ich sage das nicht, um besonders nett und bescheiden zu wirken, sondern weil ich mir wünsche, dass Hundebesitzer gegenüber Hundeexperten viel kritischer sind, und einfach mal nachfragen.

Zum einfacheren Mitverfolgen füge ich das Video, um das es geht, hier nochmal ein:

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Beobachtung  Interpretation
Zwei Hunde, Abstand zueinander ca 40cm, Kau-Objekt liegt an der linken Vorderpfote des linken Hundes, weiteres Objekt (rosa Kong) weiter von der Kamera weg, etwa zwischen den Hunden, etwas näher am linken  die Hunde sind recht nah zusammen, was aber zu ihrer Beziehung (sie kennen sich – wohnen zusammen) passt. Wer näher am Objekt ist, hat die größeren „Besitzansprüche“, hier also Rike.
linker Hund (=Rike) frontal zum anderen ausgerichtet, steht oder sitzt, Körperschwerpunkt nach vorne (=zum anderen Hund) verlagert, linkes Vorderbein weiter nach vorne, vorm Schwerpunkt

Ohren aufgerichtet nach vorne Maul geschlossen Kopf aufgerichtet Stirn glatt, kein Lippenspalt sichtbar Schwanz nicht sichtbar

Rike betont diesen Besitzanspruch, indem sie ihre Pfote nah am Objekt hält. Ihre Körpersprache ist offensiv: alles ist nach vorn und frontal zu Habca gerichtet, leicht zu ihr hin gelehnt. Der geschlossene Mund verrät eine gewisse Anspannung.

 

rechter Hund (= Habca) liegend, Distanz s. oben, Kopf zu R. gewandt, aus Körperachse abweichend. Habca ist von Anfang an weniger eindeutig: sie liegt nicht frontal auf Rike zu, also nicht offensiv, dreht aber den Kopf.  Sie hält Körperkontakt zu mir: eine Art Rückversicherung? Zuneigung? Etwas anderes, das ihr gerade wichtig ist, außer dem Kau-Ding.
Maul geschlossen Anspannung
Ohren zurück? (nicht gut sichtbar). defensiv
Rechter Hund fiepst, züngelt, wendet Blick von R. ab zu Filmerin (= Frauchen) Die Lautäußerung interpretiere ich als Begehrlichkeit. Soziales Referenzieren (etwa: „was hältst du von der Sache?“) zu mir. Züngeln, besser: „licking intention“, ist ein Beschwichtigungssignal. Das kann bedeuteten, dass Habca  sich selbst oder Rike beschwichtigt (oder beides). Licking intention scheint oft von selbstsicheren Hunden gezeigt zu werden, die sich z.B. trotz eigenen Drohens um den Gruppenzuhalt bemühen. Wie andere Calming Signals auch, dient es der Eskalationsvermeidung. Eine längere Diskussion dazu zum Beispiel hier.
danach bleibt Maul leicht geöffnet entspannte Haltung (Hunde- und Menschenmäuler sind bei Muskelentspannung leicht geöffnet!)
linker Hund schaut 90 Grad nach links, schnelle, zackige Bewegung, rechter Hund folgt mit dem Kopf der Bewegung soziales Referenzieren: „da ist das Ding darum geht es!“ Die Qualität der Bewegung verrät bei Rike Anspannung, bei Habca eher relaxt.
rechter Hund hechelt hörbar, züngelt, grunzt nochmal eine „licking intention“, in Zusammenahng mit begehrlicher Lautäußerung mit Tendenz ins drohende
linker Hund verkürzt die Distanz, schnuppert (?) im Maulbereich des rechten, weiterhin frontal ausgerichtet Distanzverkürzung als erster Schritt zum „ich nehm es mir gleich“. Riechen am anderen Hund dient der Stimmungskontrolle. Damit ist das ganze eine Art Test: „was würdest du sagen, wenn ich es mir nehme?“
rechter dreht Kopf ein paar Grad Richtung Filmerin, hechelt weiterhin, wendet Blick weiter ab als Kopfdrehung, es wird Weiß im Auge sichtbar Kopf abwenden ist Calming Signal, deeskalierend. Blick abwenden: „ich stelle keinen Anspruch“.
es wird Weiß im Auge sichtbar bei Habca schwer zu sehen, ob es sich um ein „whale eye“, das so genannte „Stressauge“ handelt, da ihr drittes Augenlid weiß ist, und sie zur Seite blickt. Also entweder Stress-Zeichen, oder bedeutungslos.
linker Hund bleibt währenddessen frontal, so dass er nun an rechtem Hund vorbei Richtung Wand schaut, Körper unbewegt/ starr weiterhin angespannt, wobei Rike auch einfach eine gespannte kleine Hündin ist, mit physiologisch hohem Tonus. Sie hängt nicht rum. Sie fixiert jetzt nicht mehr Habcas Gesicht, sondern schaut an ihr vorbei – nimmt Druck raus.
rechter Hund hechelt so stark, dass Körper sich mitbewegt könnte Stress/ Aufregung sein.
Blick des rechten Hundes wandert etwas Richtung linker Hund, aber nicht bis zu ihm hin – knurrt „ich hätte es schon ganz gern“
linker Hund geht einen Schritt zurück, schaut rechtem Hund wieder ins Gesicht  Distanzvergößerung: der Poker darum, wer näher dran ist, und damit den größeren Anspruch hat. Anspruch geht nicht nach „Rang“ oder sozialem Status (wie Menschen oft glauben): wer etwas zwischen den Vorderpfoten oder im Maul oder nah bei sich hat, der hat auch rechtmäßigen Anspruch, es zu behalten, und ein anderer würde es ihm nicht einfach wegnehmen. Menschen machen sowas (leider), um Rang- oder Machtansprüche zu stellen. – Wenn Rike einen Schritt zurück geht, zeigt sie also jetzt weniger Anspruch.
rechter Hund schaut zum Kau-Ojekt, Kopf mitgedreht. Maul schließt sich. Haut leicht mit linker Vorderpfote. Körperschwerpunkt verlagert sich nach rechts. Das Pfotenhauen scheint mir hier weniger ein Ansatz zum „nehmen“ als eher eine spielerische Komponente zu sein. Kennt ihr das Hunde-Spiel „Pfotenhauen“? Habca und Rike spielen das gern. Hier etwas spielerisches reinzubringen, muss aber nicht heißen „lass uns spielen“, sondern es dient eher der Entschärfung eines potenziellen Konflikts.
Linker Hund schluckt oder rülpst deutlich sichtbar. es sieht für mich nach Anspannung aus, kann aber auch Zufall sein – oder irgendwas, was ich noch nicht kenne!
Rechter Hund knurrt/ maunzt, beginnt dann wieder stark (= mit Bewegung des ganzen Körpers) zu hecheln, haut nochmal mit linker Vorderpfote auf der Stelle, dreht den Kopf weiter nach rechts, vom Objekt weg. Bewegt Kopf langsam zurück zum Filmer, also fast 180 Grad. ich verstehe diese Sequenz als „ich hätte es schon gern, aber ich sehe, wie wichtig es dir ist, und ich will mich nicht streiten“. Ihr immer wieder Weggucken, Wegdrehen, in verschiedenem Maße, sind alles Deeskalationszeichen. Ihre weich bleibende Körpersprache zeigt, dass es ihr aber auch nicht so wahnsinnig wichtig ist.
Linker Hund schaut auf Pfote des rechten Hundes, senkt dabei den Kopf etwas ab, ansonsten unverändert. „Was war das?“
Rechter Hund maunzt. Linker Hund schaut zum Objekt, senkt dabei den Kopf deutlich, riecht evtl. daran, schaut dann zum rechten Hund, dann zum Filmer, insgesamt flüssige, weiche Bewegung. Rike wird weicher, entspannter. Soziales Referenzieren.
Beide Hunde schauen in die Kamera. Rechter Hund bewegt die Augenbrauen, maunzt/ winselt. „Mami, ich hätte das Kau-Ding auch gern, aber ich will nicht streiten!“ ;-)
Linker Hund schaut zum rechten Hund, leichte Hau-Bewegung mit linker Vorderpfote mit Vorwärtsbewegung auf Pfote des rechten Hundes zu, dabei Absenkung des Körpers, Blick bleibt im Gesicht des rechten Hundes. Imitiert sie das Pfotenschlagen? Als eine emotionale Anpassung werden Gesten und Haltungen nachgemacht. Dabei verkürzt sie aber auch ihren Abstand zum Objekt wieder. Kontrollblick zu Habca. Insgesamt verstehe ich es als: „ok, wir sind alle gut drauf, dir ist das Ding nicht sooo wichtig, dann kann ich es ja haben – ODER?“
Rechter Hund hechelt weiter, schaut kurz zum anderen Hund, dann zur Kamera, weiche Bewegungen, wenig Kopfbewegung. wenn ihr Hecheln Stress ist, dann vermutlich, weil es für sie doch ganz schön nah und „konfrontativ“ ist. Sie hat eine große Individualdistanz.
Linker Hund legt sich hin, riecht dabei an Pfote des rechten Hundes. Beruhigung, Deeskalation, entspanntere Stimmung angenommen, erneutes Nachkontrollieren der Stimmung von Habca
Rechter Hund, hechelnd, deutlich Weiß im Auge, zieht Pfote weg, linker Hund folgt mit der Nase. „uh, das ist mir zu nah/ das kitzelt!“
Mensch sagt „das kitzelt“, daraufhin schauen beide kurz zu Mensch, linker Hund schnell wieder weg Richtung zweites Objekt (rosa Kong), scheint an beiden Objekten zu schnuppern, setzt sich auf, linke Pfote schlägt dabei, riecht am Kau-Objekt Nr. 1, rechter Hund schaut dabei zu ihr. „was sagt der Mensch dazu?“

„reden wir alle über diese Objekte hier?“

„es wird nochmal interessant“

Pfote: spielerische, lockere Komponente

Linker Hund schaut mit tief über dem Kau-Objekt gehaltenem Kopf zum rechten Hund, der schaut sofort weg (nach links). Ohren jetzt nach vorn. „kann ich es dann jetzt nehmen?“ – „meinetwegen“
Linker Hund leckt am Kau-Objekt, ergreift es mit den Zähnen, legt sich ab und wendet sich dabei deutlich von rechtem Hund ab, Distanz vergrößert. Ohren jetzt zur Seite, tiefer. vorsichtiges, entspanntes Nehmen, „sie hat nichts dagegen“, Beute in Sicherheit bringen, aber dabei Kontakt halten (sie hätte ja auch ganz weg gehen können), Entschärfen der frontalen Stellung: „das Gespräch ist beendet“ und/ oder „ich lass dich in Ruhe“.
Ohren jetzt zur Seite, tiefer. das sind „Ressourcen-Ohren“! „Das ist jetzt meins!“. Die Ohren beschirmen sozusagen das Objekt.
Rechter Hund steht auf und wendet sich ganz Mensch/ Kamera zu, vergrößert damit Distanz zu anderem Hund + Objekt, wendet sich von beidem ganz ab. „Na gut, das Gespräch ist beendet – Frauchen, du bist mein Trostpreis!“

 

Mein Fazit?

Beide Hunde kommunizieren facettenreich und erfolgreich miteinander. Rike ist forsch, wirkt schnell offensiv – aber bei genauem Betrachten fragt sie mehr und höflicher, als man erst denkt! Habca ist an Ruhe, Frieden und gutem Auskommen interessiert. Aber wenn Habca etwas wirklich haben will, gibt es gar nicht erst so ein „langes“ Gespräch. ;-) Der Huf hat im Laufe des Tages noch bestimmt zehn mal den Besitzer gewechselt. Seine Rolle als „Gesprächs-Anlass“ scheint mir fast wichtiger als seine Rolle als „Essen“. Rike trägt ihn zum Beispiel absichtlich zu Habca hin, „provoziert“. Habca animiert sie zum Spielen, aber sobald Rike darauf einsteigt, schnappt sich Habca das Ding. Dieses Kommunizieren scheint ihnen Freude zu machen und/ oder wichtig zu sein. Sie können gut miteinander reden, keiner wird übervorteilt, unterdrückt oder erscheint mir unfair – also dürfen sie das auch weiter so machen. Andere Situationen zeigen mir, dass sie kein Ressourcenproblem miteiannder haben: sie trinken und fressen aus einem Napf, Rike kaut ihre Kausachen immer am liebsten in Habcas Nähe, sie tauschen regelmäßig. Für Habca war die „Auseinandersetzung“ eher belastend/ anstrengend, was ich aus ihrem verhältnismäßig starken Hecheln schließe. Sie findet dann für sich schnell eine „Ersatzbefriedigung“, was eine super Strategie ist, um sich besser zu fühlen.

 

Zum Weiterlesen

 

Und noch weiter:

 

 

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