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 hundephilosophin1601

 

 Ich finde, dass Menschen sich oft übergriffig gegenüber Hunden verhalten (Hunde auch gegenüber Menschen, und Hunde gegenüber Hunden). In den letzten Monaten ist mir das besonders aufgefallen, weil ich einen niedlichen Welpen/ Junghund öfter auf dem Arm hatte – und alle möglichen Leute mir mit ihren Händen hemmungslos und ungefragt vor Gesicht und Busen rumfuchtelten, um das Tierchen zu streicheln. Ich gebe zu, ich bin empfindlich, was meine Individualdistanz angeht. Ich finde ein bisschen Abstand ganz gut, bis ich jemanden zur Begrüßung umarme, müssen wir schon ein paar Mal durch Dick und Dünn gegangen sein, und wenn mir jemand einen Fussel von den Klamotten machen will, zucke ich wahrscheinlich erstmal zurück. 

Dass wir uns nicht missverstehen: ich rede von netten, wohl meinenden Menschen. Die ihre Hände nicht bei sich behalten können! Habca kann das ja so gar nicht ab, vielleicht habe ich dadurch angefangen, darauf zu achten. Ja, sie ist wuschelig – aber gibt das jedem das Recht, sie anzufassen? Als sie klein war, und ich unerfahren, dachte auch ich: Ja, Hunde müssen sich von Menschen anfassen lassen. Wenn Kinder fragten „darf ich die streicheln?“ (während der Frage schießen die Händchen ja meist schon ins Hundegesicht) hielt ich sie fest, obwohl ich merkte, dass ihr das Ganze unangenehm war. Habca möchte nicht angefasst werden – aber um zu lernen, dass das ok ist, habe ich lange gebraucht.

Lustigerweise sind gerade wir zwei Distanz-Heinis, Habca und ich,  fast den ganzen Tag auf Tuchfühlung. Sie lehnt sich ständig an mich an, liegt auf meinen Füßen oder mit dem Kopf in meinem Schoß – und ich kraule selbstvergessen in ihrem Fell.

Der Abstand, der sich zwischen zweien gut und richtig anfühlt, ist nämlich unterschiedlich:

  • je nach Vertrautheitsgrad, Sympathie und Beziehung
  • nach Tageszeit, Aktivitätslevel, aber auch Jahreszeit 
  • je nach örtlichen Bedingungen
  • je nach Kultur(kreis) und Charakter , beim Hund je nach Rasse
Der durchschnittliche „mitteleuropäische Mensch“ empfindet etwa 45cm als „intime“ Distanz, und alles was näher kommt als Eindringen in die Intimsphäre, und die durchschnittliche „öffentliche Distanz“ soll 360 cm und mehr sein. Dass das situationsabhängig ist, wird klar, wenn man sich die Abstände in einer Straßenbahn zur Rush-Hour, einem Aufzug oder wenn einem jemand im Wald entgegenkommt anschaut.

Unter „Individualdistanz“ versteht man in der Verhaltens-Biologie den Abstand zwischen zwei Individuen der gleichen Art, der noch nicht zu Ausweich- oder Angriffsreaktion führt. Ich denke, dass Hunde auch gegenüber Menschen eine Individualdistanz haben, aber vielleicht ist es genauer, über „Proxemik“ zu sprechen: Raumverhalten als Teil der nonverbalen Kommunikation. Außer dem bloßen meßbaren Abstand bezieht man hier noch die Blickrichtungen und Zuwendung der Körper ein, und mögliche Berührungen: wer wen, welche Körperteile usw.

Wenn man alle Beteiligten einfach mal machen lässt, kann man beobachten, wie Hunde (und Menschen) ihre Distanz zueinander „absprechen“. Z.B. ordnen sich Vögel auf der Stromleitung in einem ganz bestimmten Abstand zueinander an. 

In Hundegruppen halten manche mehr Abstand von manchen anderen, oder von allen, während andere die Nähe ihrer Artgenossen suchen und am liebsten immer auf Tuchfühlung wären. 

Dass Habca mal mit einem anderen Hund in einem Körbchen kuschelt, kann ich mir kaum vorstellen. Aber mit Nomi hat sie zum Beispiel, als sie sich sehr gut kannten, gern Rücken an Rücken gelegen.

Wenn man anfängt, auf diese räumliche Komponente zu achten, bemerkt man, dass Menschen die Individualdistanz von Hunden ständig unterschreiten:

  • beim Halsband/ Geschirr anziehen und ausziehen
  • beim An- und Ableinen
  • wenn wir sie bitten oder zwingen, bei Fuß zu gehen
  • beim Streicheln, Klopfen und Belohnungsversuchen
  • beim Ansprechen auf der Straße
  • bei der Körperpflege: Duschen, Abtrocknen, Kämmen, Zecken suchen, Augenwinkel auswischen, Verletzungen suchen, Pfotenuntersuchung,
  • beim Leisten von Erster Hilfe und beim Tierarztbesuch
  • und oft auch im Training
Dahinter steht oft die Einstellung, dass der Hund als Besitz sich alles gefallen lassen muss, dass ein Hund keine Rechte hat und alles still ertragen soll, was Mensch so mit ihm vorhat. Ich glaube, genauso oft ist aber auch reine Gedankenlosigkeit der Grund für die Übergriffigkeit, und/ oder wenig eigene Sensibilität für den kommunikativen und sozialen Aspekt von Distanzen.
 
Mir ist dagegen wichtig: eine wertschätzende Höflichkeit auch dem Hund gegenüber, die Zubilligung von Rechten und Intimsphäre, und keine (unnötige) Übergriffigkeit. Kurz gesagt: Einfach mal die Hände bei sich behalten! 
 
Wenn ich zu einem Hund hingehe, weil ich etwas von ihm will, achte ich darauf, mich freundlich anzunähern, ein wenig seitlich, mit einem kleinen Bogen – „ich komme mit freundlichen Absichten“. Wenn der Hund den Kopf in meine Richtung dreht, ein Ohr zu mir dreht oder mich anschaut, bleibe ich oft kurz stehen. Jetzt wird es für den Hund „nah“, und jetzt kurz Stehenzubleiben entspricht etwa dem Anklopfen an der Zimmertür.
 
Wenn ihr mal einen Freund bittet, langsam auf Euch zu zugehen, könnt Ihr übrigens gut spüren, wann es für Euch „nah“ wird.
 
Ich habe vor einiger Zeit, als ich eine Auszubildende in der Hundebetreuung hatte, meine fünf Regeln zur Wertschätzung der Individualdistanz von Hunden formuliert:
 
 
Haendebeisich
 
1. Öfter mal die Hände bei sich behalten. Fremde Hunde und Hunde, die Anfassen nicht wirklich mögen, werden nicht betatscht. Im Zweifelsfall: 5-Sek-Regel nach Grisha Stewart: Streichelt fünf Sekunden und nehmt dann die Hand weg. Der Hund wird entweder sagen „mehr, bitte!“ oder z.B. Aufstehen und Weggehen. Respektiert diese Entscheidung. 
 
Bescheid sagen
 
2. Bescheid sagen. Unterschreitung der Individualdistanz wird immer angekündigt. Mit dem eigenen Hund wird sie ritualisiert (z.B. Signale „Anleinen“ und „Ausziehen“), und in entspanntem Umfeld trainiert.
 
Höflichbleiben
 
3. Höflich bleiben. Unterschreitung der Individualdistanz erfolgt körpersprachlich so wenig bedrängend wie möglich, höflich und ruhig, nicht ruppig oder unbedacht. 
 
Intimsphaeren
 
4. Intimsphäre respektieren. Wenn wir die Individualdistanz unterschreiten und der Hund droht, nehmen wir uns zurück. Wenn wir die Individualdistanz unterschreiten und der Hund sich entzieht, lassen wir ihn gewähren – wenn möglich. Wenn wir beim Absetzen/ Hinlegen einer Hundegruppe die Individualdistanzen nicht beachtet haben, und die Hunde dies selbständig ändern, respektieren wir das

 
Aktivieren
 
5. Aktivieren. Je aktiver der Hund bei einer distanzunterschreitenden Prozedur sein kann  – er kann z.B. „Helfen“ beim Halsband/ Geschirr anziehen, Abtrocknen etc., er kann durch Targets gelenkt werden oder auf Signal den Körperkontakt selbst herstellen  – desto angenehmer. Das Gefühl, selbst wenigstens etwas Kontrolle über die Situation zu haben, anstatt nur „herumgeschubst“ zu werden, macht es gerade empfindlichen Hunden leichter.